Jakob Passweg ist als Chefarzt der Hämatologie am Universitätsspital Basel tagtäglich mit lebensbedrohenden Krankheiten, mit Geheilten aber auch mit Sterbenden konfrontiert. Ein Gespräch über die Arbeit zwischen Leben und Tod und andere Herausforderungen im Betreuungsalltag.

Jakob Passweg
Professor für Hämatologie und Chefarzt der Abteilung Hämatologie an der Universität Basel
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Interview: Peter Ackermann
Jakob Passweg, was fragen Patientinnen oder Patienten unmittelbar nach der Diagnose «Krebs»?
Vielen zieht die Diagnose den Boden unter den Füssen weg. Die meisten sagen deshalb zuerst einmal nichts. Dieses Schweigen muss man als Arzt aushalten. Das meiste, was der Doktor unmittelbar nach einer schwierigen Diagnose sagt, ist sowieso zu viel und verschwindet bei der Patientin oder beim Patienten im Nebel der emotionalen Betroffenheit.
Wie überbringen Sie die schlechte Nachricht?
Leider kaum je in jener ruhigen Atmosphäre, wie wir sie den Ärzten in Ausbildung empfehlen. Ich begegne dem Patienten zumeist zuerst in der Notfallstation. Dort liegt er mit hohem Fieber, ist schummrig im Kopf und hat seltsame Blutwerte. Ich sage ihm, dass er vielleicht an Leukämie erkrankt sein könne, und dass das ein grosses Unglück wäre, wenn sich das bewahrheitet. Dass es aber weitere Abklärungen benötigt, um herauszufinden, was sich hinter den Symptomen verbirgt.
In Filmen fragen die Menschen als Erstes: «Wie viel Zeit bleibt mir noch?» Was sagen sie tatsächlich?
In der Realität stellen Erkrankte die Frage selten und kaum je so früh. Ausser der Patient sei an einem Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt, einer aggressiven Krebsart, bei der die mittlere Lebenserwartung bei drei Monaten liegt. Die Frage nach der verbleibenden Lebenszeit wird meistens erst dann aufgeworfen, wenn eine Krankheit nach mehreren erfolgreichen Behandlungen erneut auftaucht. Also dann, wenn ein sogenanntes Rezidiv ein zweites Mal auftritt und wir keine Medikamente mehr kennen, um die
Für Ihre Patienten sind Sie der potentielle Lebensretter. Wie wirkt sich das auf Ihre Patientenbeziehung aus?
Es gibt Patienten, die zum Doktor aufschauen. Anerkennung zu erhalten, ist nicht das Unangenehmste, was einem als Arzt passieren kann. Problematisch wird es, wenn Sachen von mir erwartet werden, die ich nicht erfüllen kann.
Zum Beispiel?
Geheilt werden von einer unheilbaren Krankheit.
Wie gehen Sie mit dieser Forderung um?
Das ist schwierig. Ich kann ja nicht sagen: «Herr Müller, Sie erwarten von mir, dass ich Sie heile. Sie wissen aber, dass ich das nicht kann.» Ich versuche das feiner zu machen. Eher so, dass ich die Erwartung nicht direkt anspreche.
Was machen Sie konkret?
Es ist glücklicherweise ja nicht so, dass man gar nichts mehr machen kann, wenn eine Heilung nicht möglich ist. Ich versuche dann die Krankheitsprogression hinauszögern. Und wenn auch das nicht mehr geht, lassen sich die Schmerzen lindern. Wichtig ist, sich bei der Behandlung auf realistische Ziele zu fokussieren.
Gibt es eine universelle Ressource, die allen Krebspatienten während der Behandlungen besonders gut tut?
Ja. Das allerwichtigste sind die sozialen Beziehungen. Eine Ausnahme bildete scheinbar ein älterer Herr mit einer sympathischen, ihm zugewandten Frau. Er meinte, er wolle sich nicht behandeln lassen. Er habe lange genug gelebt. Und fügte nach einem Weilchen hinzu: «Aber was wird aus meinen Liegenschaften? Die eine sollte renoviert werden. Also, beginnen wir mit den Behandlungen!»
Ihre Schlussfolgerung?
Als Arzt sehe ich nicht in die Patienten hinein. Ich höre nur, was man mir sagt. Liegenschaften machen ja nicht den Unterschied. Was ich aber häufig feststelle: Die Menschen suchen in schwierigen Situationen gerne eine innere Logik, weshalb sie weiterleben müssen.
Welche Rolle spielt dabei Gott?
Er ist heutzutage praktisch nicht mehr im Spiel.
Was ist im Behandlungsalltag das Schwierigste?
Krach im medizinischen Team. Es gibt positive Auseinandersetzungen über die Wirksamkeit von Behandlungen. Dieser Disput ist gut. Zumal wir immer Behandlungsrichtlinien folgen wollen – aber kein Patient genau in die Schemen der Richtlinien passt. Aber wenn es um andere, beispielsweise zwischenmenschliche Konflikte geht, ist das im Alltag schwierig.
Welche Rolle spielt der Zeitdruck?
Er stellt eine besondere und grosse Herausforderung dar. Schwierige Gespräche benötigen Zeit – die ich selten im gewünschten Masse habe. Heute beispielsweise hatte ich eine Patientin, die so viele Fragen stellte, dass die nachfolgende Person mit viel drängenderen Fragen warten musste. Und das alles zwischen der Verabschiedung einer Sekretärin in die Pensionierung und einem Karrieregespräch. Natürlich ist das meine spezielle Situation als Chefarzt. Es gibt andere Chefärzte, die ihre Rolle in der Hierarchie einnehmen und weniger Patienten selber betreuen. Ich will das anders: Ich habe relativ viele Patienten und Visiten, weil ich Doktor geworden bin, um Menschen zu behandeln. Und nicht, um Verwaltungsaufgaben zu übernehmen.
Wie setzen Sie bei wenig Zeit und vielen Patienten die Prioritäten richtig?
Ein Arzt weiss, dass nach dem zu behandelnden Patienten noch fünf weitere folgen – und, dass er alle gut behandeln muss, nicht nur einen speziell gut.
Wer spricht mehr: der Patient oder Sie?
Ich. Das ist die Berufskrankheit der Ärzte.
Wie ist es, jemanden zu behandeln, den Sie persönlich kennen?
Schwierig. Ich bin mit meinen Patienten nicht per Du. Aber es gibt Menschen, mit denen ich per Du bin, und die dann zu Patienten werden. Das versuche ich auf einem Minimum zu halten.
Worin liegt die Schwierigkeit?
Es gibt eine optimale Distanz zwischen einem Arzt und seinem Patienten. Ist diese zu weit oder zu nah, können Schwierigkeiten auftreten. Bei Bekannten oder Freunden ist die Beziehung zu nah. Man sitzt mehr auf Nadeln. Die optimale Beziehung ist eine professionelle.
Würden Sie in den Ausstand treten, wenn bei einem Familienmitglied eine Krebsart diagnostiziert würde, für die Sie der Spezialist sind?
Wahrscheinlich. Aber einfach wäre das nicht. Ich müsste mich dem Vorwurf aussetzen, dass ich mich nicht mal um ein eigenes Familienmitglied kümmere. Andererseits weiss jeder Arzt, dass es nicht gut ist, wenn man seine eigene Familie behandelt. Die Belastungen sind zu gross. Selbst wenn alle Therapien gut anschlagen und erfolgreich funktionieren, kann es das Verhältnis beschädigen.
Sahen Sie sich schon mal in der Situation, ein Familienmitglied behandeln zu müssen?
Nein. Aber als Doktor ist man selbst dann gefordert, wenn das gesundheitliche Problem nicht in das eigene Gebiet fällt. Schnell könnte es heissen: «Er wusste nicht mal, was sagen.» Oder «Er hat mich falsch beraten, mich nicht mal zum richtigen Spezialisten geschickt.» Als Doktor kann man nicht aus der Rolle des Heilers schlüpfen.
Weshalb wählten Sie als junger Mensch die Fachrichtung Hämatologie?
Zunächst zog es mich in die Onkologie, ich wurde aber von der Chefsekretärin umgeteilt. Sie spielte bei der Einteilung der jungen Ärzte Schicksal: Der Passweg geht in eine LeukämieAbteilung. Dort war es anstrengend, aber auch spannend. Die Bilder der genetisch veränderten Zellen faszinierten mich. Und schon bald erlebte ich als halbfertiger Internist, wie es ist, wenn man in einem Gebiet ein bisschen mehr weiss: Man kann dazu lernen, sattelfest werden und gut in dem, was man tut. Da wusste ich: Ich will in die Hämatologie.
Was interessierte Sie mehr: Patienten behandeln oder forschen?
Ersteres. Wobei sich die Behandlung nicht von der Forschung trennen lässt – und umgekehrt. In jeder Patientenbetreuung tauchen Fragen auf, die man nicht versteht: Warum verhält sich eine Krankheit so? Wie findet man den Mechanismus dahinter? Wen kann man fragen? Was für ein Projekt liesse sich aus den Fragen erstellen? Die Medizin ist ein Füllhorn voller wunderlicher Sachen, denen man auf den Grund gehen kann. Sofern man keinen Routinejob und abends rechtzeitig zu seinen Hobbys will.
Erinnern Sie sich an Ihre erste Patientin oder Ihren ersten Patienten?
Ja. Die Frau kam mit einer Leukämie, die schwierig zuzuordnen war. Ich verschrieb ihr eine Chemotherapie, die in den damals verwendeten Dosen eine Schädigung des Kleinhirns verursachte und schwere Bewegungs- und Koordinationsstörungen auslöste. Das zu begleiten, war schwierig: Die alltäglichsten Bewegungen wie das Heben eines Arms gingen nicht mehr. Die Patientin hat ihre Blutkrebserkrankung glücklicherweise überlebt, und später hat sie sich von den Nebenwirkungen der Medikamente erholt. Aber etwas von den Schädigungen ist geblieben.
Löst Ihre Arbeit oft Schuldgefühle aus?
Ja, die ganze Zeit. Das gehört zu meiner Arbeit wie der weisse Kittel. Als Arzt treffe ich zusammen mit dem Patienten eine Entscheidung. Aber wenn die Behandlung «lätz» rauskommt, hat der Doktor das Falsche empfohlen.
Wie werden Sie mit den Risiken von Fehlentscheiden und Schuldgefühlen fertig?
Die Möglichkeit von vielen erfolgreichen Behandlungen müssen alles Schwierige aufwiegen. Was nichts an der Tatsache ändert, dass es in Situationen, in denen es mehrere Behandlungsmöglichkeiten gibt, immer bessere und schlechtere Entscheidungen gibt.einnimmt, passiert ganz viel in der Tiefe des Meeres, in seinem Unbewussten. Wenn ich mit ihm über Sinnfragen spreche, sind wir in der Luft, im Wachzustand, im Bewusstsein. Bei einer Maltherapie aber befinde ich mich mit dem Patienten dazwischen. Auf den Wellen, die sich nicht fassen lassen. Man hat eine Welle kaum je im Griff, und so ist es auch beim Malen: Nicht alles lässt sich sofort benennen, was aus den Tiefen aufgestiegen ist oder sich in der Luft kräuselt. Der Patient muss seine Erkenntnisse selber formulieren. Und die Kunsttherapie hilft ihm dabei, in einen Prozess zu gelangen, bei dem unsichtbare Dinge an die Oberfläche geraten.
Belastet Sie während der Arbeit die Ungewissheit, ob eine Behandlung tatsächlich erfolgreich verlaufen wird?
Ich bin mir meiner Verantwortung bewusst. Vernünftig ist, dass heutzutage viele Entscheidungen in Tumorkonferenzen getroffen werden, bei denen mehrere Ärzte zusammensitzen und gute Argumente für oder gegen eine Behandlung einwerfen.
Die Verantwortung verteilt sich trotzdem nicht auf mehrere Schultern.
Richtig. Und die sensibleren Patienten merken, wenn der Doktor nicht von der Richtigkeit einer Behandlung überzeugt ist. Sie fragen dann beispielsweise: «Würden Sie mich so behandeln, wenn ich Ihre Grossmutter wäre?»
Ihre Antwort?
Sie sind nicht meine Grossmutter.
Wer ist über eine längere Dauer hinweg besehen der bessere Arzt: der Sichere oder der Zweifler?
Das einzuschätzen ist schwierig. Möglicherweise ist für viele Patienten der Besserwisser mit der klaren Ansage der gute Doktor. Schliesslich will man bei einem schwierigen Entscheid die Sicherheit, dass richtig entschieden wird.
Und wen haben Sie als Chefarzt lieber in Ihrem Team?
Den Zweifler. Besserwisser sind unerträglich.
Liegt ein Teil einer erfolgreichen Behandlung in der Gewissheit, dass man das Richtige tut?
Bestimmt. Gleichzeitig ist es erstaunlich, woran man in der Geschichte der Medizin erfolgreich glaubte, von dem man heute aber sagen würde, es sein ein Unsinn. Etwa der Aderlass bei Lungenentzündungen.
Als Hämatologe kommen Sie Sterbenden besonders nah. Akzeptieren Ihre Patienten grundsätzlich, dass sie sterben müssen?
In Situationen, in denen es dem Ende zu geht, erlebe ich alles: Herzliche Situationen, in denen die Erkrankten sich von ihren Familien verabschieden und gehen. Aber es gibt auch Menschen, die sich bis zum Schluss gegen das Sterben wehren. Oder es verdrängen.
Wie machen sie das?
Diese Menschen finden Methoden, um den Gesprächen über ihren nahenden Tod auszuweichen. Sie überhören beispielsweise einfach, dass ich sage, dass es nicht mehr viele therapeutische Optionen gibt, und dass man fast nichts mehr machen kann, und dass selbst das nichts mehr nützt. Stattdessen fragen sie mich, ob ich ihnen rate, noch diese und jene Reise anzutreten. Häufig erwähnen sie Projekte in der Zukunft und erwarten, dass sie diese auch umsetzen können. Beispielsweise an ein Konzert zu gehen. Oder auf eine Kreuzfahrt. Sie sagen dann Dinge wie: «Ich habe für den November eine Kreuzfahrt mit meiner Frau gebucht. Und ich erwarte von Ihnen, dass sie mich so weit bringen, dass ich auf die Fahrt gehen kann. Ich rechne schwer mit Ihnen. Können Sie mir jetzt sicher zusagen, dass ich die Fahrt unternehmen kann. Die Reise ist schon bezahlt, und ich habe ein so günstiges Billett gekauft, dass man es nicht zurückerstattet bekommt.»
Kränkt Sie eine solche Ansprache?
Nein. Aber man muss viele Jahre Doktor gewesen sein, um zu lernen, dass das eigene Wissen und man selber als Person nicht wichtig ist, sondern dass man nur für den Patienten da ist. Aber ich muss auch aufrichtig sein, wenn der Patient fragt, ob er es auf die Kreuzfahrt schafft, und ihm sagen, dass ich das nicht glaube.
Halten Sie Patienten davon ab, ihr Sterben zu verdrängen?
Wenn jemand nicht über sein Sterben sprechen möchte, habe ich das zu respektieren. Es liegt nicht an mir, jemandem zu sagen, dass sein Leben endlich ist. Und dass er jetzt im Sterbemodell von Elisabeth Kübler-Ross gefälligst von der dritten Phase in die vierte zu wechseln habe. Der Respekt vor dem Menschen verlangt, dass ich ihn berate und für ihn da bin, nicht aber, dass ich ihn zu etwas zwinge, was er nicht will.
Was ist schwierig in der Behandlung von Patienten, die sterben wollen?
Wenn ein Patient auf der Station stirbt, hat er in der Regel noch ganz viele Behandlungen. Er wird beispielsweise noch künstlich ernährt und erhält über eine Infusion Antibiotika. Da kann man nicht jeden Tag in sein Krankenzimmer treten und etwas anderes abstellen oder abräumen. Statt der Salamitaktik ist ein klarer Schnitt gefragt.
Wie ziehen Sie diesen?
Man steht hin und sagt: «Wir sind jetzt so weit, dass wir sagen, wir hören auf zu kämpfen. Sind Sie auch bereit dazu?» Im besten Fall sind der Patient und seine Angehörigen auch soweit.
Sie betonen die Rolle der Angehörigen.
Ja. Sie müssen den Patienten durch die Krankheit mittragen – aber auch freigeben. Denn heute sterben immer mehr Menschen im Spital nach einer bewussten Entscheidung, die therapeutischen Bemühungen einzustellen. Es gibt dabei grosse Unterschiede. Die West- und Nordeuropäer akzeptieren recht gut, dass die Sterbephase häufig durch einen gezogenen Stecker eingeläutet wird. In anderen Kulturen wie den afrikanischen, in denen lebensverlängernde Therapien nicht vorhanden sind, ist der Tod noch stärker ein natürliches Ereignis. Da ist das Unterlassen therapeutischer Handlungen manchmal schwierig zu vermitteln.
Wirken Angehörige grundsätzlich lebensverlängernd?
Ja. Aber es gibt alle Spielformen. Also auch die Situation, in der eine Ehefrau mir im Vorzimmer sagt, sie möchte, dass ihr Mann nicht mehr leiden muss, dass seine Krankheit eine wahnsinnige Belastung für alle sei und sie einwillige, dass er gehen dürfe. Dass das für alle das Beste sei. Und dann spreche ich im Zimmer mit dem Patienten, und er sagt: «Ich mag nicht mehr und würde gerne sterben. Aber wissen Sie: Ich kann meine Frau nicht im Stich lassen. Ich muss weiterkämpfen.»
Wie schaffen Sie Klarheit?
Ich mache die Türe auf und sage der Frau: «Bitte kommen Sie doch herein und sagen Sie doch bitte vor Ihrem Mann, was sie vorhin gesagt haben.»
Klärt sich die Situation dadurch tatsächlich?
Nein. Denn ich rufe die Frau natürlich nicht rein. Solche Situationen benötigen mehr Fingerspitzengefühl.
Wie begegnen Sie suizidalen Wünschen von Schwererkrankten?
Meine Aufgabe als Arzt besteht darin, Krankheiten zu lindern und das Leben zu verlängern, aber auch darin, das Sterben zu begleiten. Wenn ein Patient den Tod noch ein paar Monate rausschieben könnte, liegt es nicht an mir zu entscheiden, dass er noch nicht lange genug gekämpft hat.
Leisten Sie Sterbehilfe?
Bei diesen Patienten ist die passive Sterbehilfe nicht so häufig ein Thema. Weil die Krankheiten in der Hämatologie schnell zum Tod führen, wenn man sie nicht behandelt.
Wie tröstet man einen Krebsbetroffenen?
Man kann ihm weder sein Schicksal noch sein Leiden nehmen. Aber Erkrankte spüren zwischenmenschliche Wärme sehr gut. Deshalb ist Trost enorm wichtig. Zeigen Sie einem Krebserkrankten, dass Sie verstehen, dass er in einer schwierigen Situation ist. Dass Sie für ihn da sind, die Krankheit mit ihm durchzustehen. Dabei können Sie durchaus mal grobe Wörter in den Mund nehmen und sagen: «Du bist ein armer Cheib mit dieser Scheisskrankheit.» Und sagen Sie ihm, dass er «es gut macht». Um ihm seine Selbstzweifel zu nehmen. Schuldfragen sind bei vielen Krebspatienten ein Riesenthema.
Ist die Schuldfrage kulturell bedingt?
Nein. Das Suchen nach Gründen, weshalb man an einer lebensbedrohenden Krankheit ausgesetzt ist, ist universell. Aber es gibt eine typisch schweizerische Frage: Schweizer wollen wissen, inwiefern Sie mit ihrem Verhalten zur Erkrankung beigetragen haben. Sie sind dabei sehr detailbesessen: «Habe ich zu wenig Äpfel gegessen? Oder zu viel? Oder zu wenig Birnen? Oder zu viel?»
Was sagt man Angehörigen, wenn sie einen Liebsten verlieren?
Es gehört zum guten Ton, dass man über einen Verstorbenen etwas Gutes sagt. Niemand will hören: Der Krebsbetroffene ist mit grossen Leiden gestorben – zumal das oft nicht stimmt. Die meisten Angehörigen wollen hören, dass der Krebsbetroffene für sein Leben und seine Familie gekämpft hat wie ein Löwe, und dass das leider trotzdem nicht gereicht hat. Das gilt sogar dann, wenn der Patient am Schluss palliativ gepflegt wurde. Die Leute sagen dann: «Er hat einsehen müssen, dass es das Richtige ist, nicht mehr weiterzukämpfen, weil der Preis so hoch war und der Gewinn so klein. Aber er hat das gut gemacht.»
Was sagt man Angehörigen, wenn sie einen Liebsten verlieren?
Es gehört zum guten Ton, dass man über einen Verstorbenen etwas Gutes sagt. Niemand will hören: Der Krebsbetroffene ist mit grossen Leiden gestorben – zumal das oft nicht stimmt. Die meisten Angehörigen wollen hören, dass der Krebsbetroffene für sein Leben und seine Familie gekämpft hat wie ein Löwe, und dass das leider trotzdem nicht gereicht hat. Das gilt sogar dann, wenn der Patient am Schluss palliativ gepflegt wurde. Die Leute sagen dann: «Er hat einsehen müssen, dass es das Richtige ist, nicht mehr weiterzukämpfen, weil der Preis so hoch war und der Gewinn so klein. Aber er hat das gut gemacht.»
Was vereinfacht oder erschwert Ihnen das Abschiednehmen von Patienten?
Abschied nehmen ist «Adieu» sagen. Das geht – irgendwie. Schwierig ist es, wenn ein Patient an Komplikationen gestorben ist, die ich nicht kommen sah. Und die ganz harte Tour besteht in der Obduktion. Die Leichenschau zur Feststellung der genauen Todesursache verschafft eine brutale Klarheit über die Krankheit und was die Behandlung bewirkt hat. Die Leichenschau bringt uns im Wissen um eine Krankheit weiter. Deshalb sind Obduktionen so wichtig.
Die Zahl der Leichenschauen ist in den vergangenen dreissig Jahren stetig gesunken. Weshalb?
Zweitens bedeutet die Obduktion für die Ärzte eine Menge Papierkram. Erstens geben die Angehörigen den Verstorbenen nicht mehr so einfach zur Obduktion frei. Sie wollen nicht, dass man ihren Verwandten aufschneidet, als ob sie glauben würden, dass dies dem Toten Schmerzen bereiten könnte. Gesellschaftlich hat so etwas wie eine Romantisierung der Körperlichkeit stattgefunden.
An der Pinnwand Ihres Büros hängen ganz viele TodesanzeigenWeshalb?
Sie stammen von Patienten, die in unserer Abteilung in Behandlung waren. Ich sammle auch die Mails mit den Todesmeldungen. Ich habe für sie eigens einen Ordner eingerichtet. Die beiden Sammlungen helfen mir, mich an die Menschen zu erinnern. Sie lassen sich nicht einfach wegschieben.
An wie vielen Beerdigungen ehemaliger Patienten nahmen Sie teil?
In den vergangenen Jahren nahm ich nur einmal teil. Bei einem Verstorbenen, der mir nahestand.
Was haben Sie aufgrund Ihrer Arbeit über das Menschsein gelernt?
Alles. Ich kann mir keine andere Tätigkeit als die meine vorstellen, in der man so viel erfährt über den Umgang des Menschen mit Schicksalsschlägen, Beziehungen, Scheitern und Hoffen

Zur Person
Jakob Passweg, 61, ist Professor für Hämatologie und Chefarzt der Abteilung Hämatologie an der Universität Basel. Er ist Präsident der Oncosuisse, die als Organisation für die nationale Strategie gegen Krebs verantwortlich ist, zudem ehemaliger Präsident der Krebsliga Schweiz. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Er lebt in Basel und sagt von sich selbst: «Ich habe keine Hobbys».