sagt Roger von Moos, Präsident der SAAK, und setzt auf ein klinisches Register, das Krebsbehandlungen verbessern soll und auf eine gute zwischenmenschliche Vernetzung.
Roger von Moos
Präsident der SAAK
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Interview: Peter Ackermann
Roger von Moos, über welche Eigenschaften verfügt ein guter Netzwerker?
Er muss erstens wissen, dass er nicht alles weiss. Zweitens benötigt er den Willen weiterzukommen. Und drittens muss er verinnerlicht haben, dass er nicht alles alleine machen kann.
Halten Sie sich für einen guten Netzwerker?
Es ist eine Fähigkeit, die mir nachgesagt wird.
Was macht Sie in Ihrer eigenen Beurteilung zu einem guten Netzwerker?
Ich verfüge über ein breites Interesse und eine schnelle Auffassungsgabe. Das ermöglicht mir, einen Gedanken in einem Gespräch rasch weiterzuentwickeln. Ich arbeite motivierend mit anderen zusammen und ich teile am Ende den Erfolg – ich will ja, dass es zu einer wiederholten Zusammenarbeit kommen kann. Und dann bin ich davon überzeugt, dass Netzwerken nicht aus einem Geben und Nehmen besteht, sondern, dass das Ziel etwas Neues, Drittes sein soll.
Als Präsident der SAKK knüpfen Sie gerade ein digitales Netzwerk: das klinische Register «Swiss Real World Data Registry» (RWD) und den Onconavigator. Wie funktioniert dieser?
Mit dem klinischen Register und dem Onconavigator wollen wir basierend auf dem molekularen Profil für Krebspatienten Behandlungsalgorithmen entwickeln und randomisiert untersuchen. Dazu sammeln wir individuelle Daten zu Patienten, Molekülen und zur Tumorbehandlung. Die Resultate der Behandlungen wollen wir in ihrer Wirksamkeit und Verträglichkeit testen, damit sie uns evidenzbasiert in der Krebsbehandlung weiterbringen.
Wie würden Sie Ihrem 13-jährigen Sohn den Onconavigator erklären?
Hmmm. Vielleicht so: Wenn wir jemanden behandeln, der an Krebs erkrankt ist, sammeln wir drei Arten von Informationen: Daten zum Menschen, zur Krebserkrankung und zu den Bausteinen der Krankheit. Aus diesen drei Daten versuchen wir mit Hilfe von künstlicher Intelligenz etwas Neues herauszufinden, das seine Behandlung oder die anderer erkrankten Menschen verbessert.
Was ist der Leitgedanke hinter dem Onconavigator?
Heute stütze ich mich – wie die anderen Onkologinnen und Onkologen in anderen Krebszentren auch – während einer Therapie auf meine persönlichen Erfahrungen. Sie gründet auf der Behandlung weniger Patienten, was nur einen kleinen Überblick ermöglicht. Funktioniert eine Behandlung bei Patienten anderer Onkologen nicht, erfahre ich das nicht. Die Idee des Onconavigators besteht nun darin, dass uns ein gut geknüpftes, digitales Netzwerk ein kollektives Lernen ermöglicht und uns zu Gunsten der Patienten zu grösseren Erfolgsraten führt.
Wie geht der Onconavigator konkret vor?
Zukünftig sollen schweizweit möglichst viele Krankheits- und Molekulardaten in unser klinisches Register eingespiesen und an eine Behandlung angeschlossen werden. Die Resultate werden ebenfalls eingegeben. Wenn wir diesen Loop genügend oft wiederholen, soll das System des Onconavigators in der Lage sein, herauszufiltern, welche Therapiearten in einer solchen Situation die besten sind. Wenn herauskommt, dass ein Medikament in 20 ähnlichen Fällen nicht funktioniert hat, müssen wir nicht unbedingt unseren Hirnschmalz ein 21. Mal anwenden. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Behandlung funktioniert, liegt dann unter 1 Prozent.
Was macht die Maschine besser als der Mensch?
Wir Onkologen sind in unserem Denken sehr ein- oder zweidimensional. Bereits in drei Dimensionen zu denken, bereitet dem menschlichen Hirn erwiesenermassen erhebliche Mühe. Eine Tumorerkrankung aber funktioniert mehrdimensional. Da ist uns die Maschine überlegen. Sie verarbeitet grössere Daten, erfasst und teilt auch Einzelfälle und schafft hoffentlich mehr Sicherheiten.
Von wem stammt die Ideen, und von wem wird das klinische Register getragen?
Die Idee stammt von Dieter Köberle, dem Leiter der medizinischen Klinik des St. Claraspitals in Basel. Geleitet wird das klinische Register, das wir «Swiss Real World Data Registry» (RWD) nennen von der Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Klinische Krebsforschung (SAKK) in Zusammenarbeit mit dem Swiss Personalized Health Network. Hier wiederum ist Prof Olivier Michielin vom CHUV im Lead.
Mit welchen Daten starten Sie das klinische Register «Swiss Real World Data Registry»?
In einem ersten Schritt kann jede Patientin und jeder Patient in einem der 20 SAKK-Zentren und ihren regionalen Netzwerken teilnehmen. Und dann wird als erstes bereits bestehendes, externes Register das Alpine Tumor Immunology Registry (Alpine TIR) Register in die «Swiss Real World Data Registry» (RWD) eingegliedert. Das Alpine TIR wurde unter Zuhilfenahme der Biostatistiken der SAKK aufgebaut und mit einer qualitativ hochstehenden Datenbank unterfüttert. Bereits wurden die Daten von rund 400 Patienten erfasst. Diese werden wir überführen.
In der Schweiz existieren viele kleine klinische Krebsregister. Ist das klinische Register RWD und der Onconavigator für diese offen?
Prinzipiell ist unsere Plattform für alle offen, die etwas zur Verbesserung von Krebsbehandlungen mittragen wollen. Nur: Zum Teil sind die klinischen Register in einer Qualität, in der sie nicht in etwas Gescheites überführt werden können.
Woran liegt das?
Viele Register werden mit beschränkten Ressourcen und viel Enthusiasmus gestartet. Und dann geht mit den Jahren das Eine oder Andere aus. Was bleibt, ist Datenmüll. Die Einträge in einer Excel-Tabelle sind zwar gut gemeint, haben aber kaum die Qualität, ins RWD aufgenommen und in den Onconavigator eingespiesen zu werden.
Was heisst: Zurück auf Platz Null?
Ja, da muss man einen harten Strich machen und neu anfangen.
Was unternehmen Sie, um mit ihrem Register nicht ebenfalls nach einem euphorischen Anfang nur Datenmüll herzustellen?
Weil wir das Phänomen kennen, tun wir alles, um es zu vermeiden. Was uns zuversichtlich stimmt: Wir betreiben als SAKK seit 50 Jahren sehr erfolgreich klinische Forschung und wissen, wie man eine Datenbank herstellt und komplexe klinische Forschungsprojekte durchzieht. Wir können dabei über ein ausgezeichnetes Netzwerk aus Kollegen zurückgreifen, die von unserem Vorhaben überzeugt sind und engagiert mitziehen. Und dann, ganz wichtig, ziehen wir das Projekt wie eine klinische Studie durch. Mit definierten Meilensteinen und einem klaren Ziel. Denn der Onconavigator soll nicht irgendwelche Daten sammeln. Er ist für die Anwendung ausgerichtet. Die Zeit der Jäger und Sammler sollte überwunden sein. Wir wollen unsere Daten nicht in einem Tiefgefrierer verstauen, damit wir irgendwann ein Hirschschnitzel rausnehmen können; vielmehr planen wir ein organisiertes Festessen.
Wie wird RWD und der Onconavigator finaniziert?
SAKK Studien werden in der Regel zu einem Drittel vom staatlichen Geldern, zu einem Drittel aus Stiftungen und zu einem Drittel von der Pharmaindustrie unterstützt. Ich gehe davon aus, dass die Verteilung bei diesem Projekt schliesslich und endlich in einem ähnlichen Rahmen sein wird.
Eine der Schwachstellen bei der Erstellung von Registern ist der Mensch. Vertippt hat man sich schnell. Wie stellen Sie die Datenqualität sicher?
Wenn ein Assistenzarzt abends nach sechs Uhr noch Daten eintippen muss, wird die erforderte Qualität kaum gewährleistet sein. Grössere Zentren werden deshalb auf Study Nurses zurückgreifen – wie das bei der Codierung bereits heute der Fall ist. Kleinere Zentren können für unser Register niemanden anheuern. Sie können auf Flying Data Managers der SAKK zurückgreifen, die die Daten in einem Zentrum professionell eingeben werden. Das Ziel ist aber, dass es zwischen den Klinik-Informatiossystemen der Spitäler und SecuTrial von SAKK eine Schnittstelle gibt, mit welcher die Daten in unser Warehouse übergeführt werden können.
Computerporgramme sind in unterschiedlichen Systemsprachen geschrieben. Wie vermeiden Sie Verständigungsschwierigkeiten?
Kein Zentrum hat Lust, die Daten zweimal zu erfassen. Was man für das Krebsregister eingibt, wird auch für RWD verwendbar sein. Zudem haben wir mit anderen Steakholders intensive Gespräche geführt. Etwa mit den schweizerischen Vertrauensärzten – bei denen es auch OffLabel-Use geht. Oder mit Krankenkassen, die über Kostendaten verfügen, aber nicht wie wir über Outcome-Daten.
Wie stellen Sie sicher, dass keine Schnittstellenprobleme entstehen?
Die Daten sind in unserem Register nicht proprietär abgelegt, sondern in einem Warehouse. Ohne Schnittstellen, mit denen man sich immer wieder Ärger einhandelt.
Nicht jede Institution verfolgt die selben Fragestellungen. Wie definierten Sie die richtigen?
Die SAKK verfügt über Richtlinien, wie Projekte eingegeben werden müssen und mit welchen Mechanismen sie beurteilt werden. Hier können wir auf bestehendes Wissen zurückgreifen.
Unterschiedliche Sprachen, die ungemeine Grösse des Projekts: Ihr anspruchsvolles Vorhaben erinnert im ungünstigen Fall an den Turmbau zu Babel.
Die Synchronisierung der technischen Sprache ist lösbar. Da sind wir gut unterwegs. Die andere Frage war, ob alle Treiber des Projekts dieselbe Sprache sprechen, also das Gleiche meinen. Mittlerweile, im Januar 2020, ist das der Fall. Alle Beteiligten haben verstanden, was der andere will. Aber klar: Ein Scheitern lässt sich nicht ausschliessen.
Was unternehmen Sie, damit sich bei Uneinigkeiten nicht die grössten Zentren durchsetzen – sondern die für das Projekt besten Ideen?
Wir funktionieren eher wie der Ständerat als wie der Nationalrat: Eine Mehrheit von Kleinen kann im Stöckli eine Minderheit von Grossen sozusagen schachmatt setzen: Die Vernunft siegt. Denn die SAKK als wichtige Treiberin funktioniert ausgesprochen so, dass nicht nur jemand bestimmt, wo es langgeht. Deshalb gibt es die SAKK wahrscheinlich auch schon so lange so erfolgreich. Sie ist neutral. Sie wird nicht als Partei gesehen. Jede der 20 teilnehmenden Organisationen besitzt die SAKK zu einem Zwanzigstel.
Wie verhindern Sie, dass Partikularinteressen über die besten Lösungen siegen?
Anfänglich war das tatsächlich eine Schwierigkeit. Das bedingte viele Gespräche und eine grosse Überzeugungskraft. Heute kann ich nicht ohne Stolz sagen: Die Partikularinteressen sind maximal verkleinert worden.
Wie fällt das Interesse der Patienten am Onconavigator aus?
In der Regel nehmen an einer klinischen Studie zwischen drei bis 18 Prozent der Patienten teil. Entscheidend ist oftmals, wie überzeugt ein Onkologe von der Studie ist. Wenn der Arzt an eine Studie glaubt und der Patient einen Nutzen sieht – für sich oder bei einem Nächsten, bei dem eine Erkrankung diagnostiziert werden könnte – desto eher macht der Patient mit. Ich beispielsweise habe nur einen einzigen Patienten, der beim Onconavigator nicht mitmachen will.
Wirkt der Onconavigator als ein Katalysator, der mehr Patienten dazu bewegt, an klinischen Studien teilzunehmen?
Das ist eine der grossen Hoffnungen, die wir hegen.
Auf wen wirkt der Onconavigator motivierender: Auf den Arzt oder auf den Patienten?
Am Anfang steht die Überzeugung desjenigen, der die Arbeit macht. Also der Arzt. Was Patienten zu einer Teilnahme motivieren kann, ist der Mehrwert, der durch das klinische Projekt für ihn entsteht. Etwa die erhöhte Qualitätskontrolle. Andererseits muss der Patient spüren, dass wir in der Krebsforschung nur dann Fortschritte erzielen, wenn man bereit ist, Informationen zu teilen. In der heutigen Welt von Kleinstgruppen von Patienten können wir es uns finanziell gar nicht mehr leisten, für alle Kleinstgruppen klinische Studien durchzuführen.
Was hält Patienten von einer Teilnahme fern?
Die Furcht, seine Daten zu teilen. Obschon die Gefahr, dass die Daten in fremde oder gar falsche Hände gelangen könnten, beim RWD und Onconavigator entscheidend viel kleiner ist, als wenn wir im Alltag durchs Internet surfen.
Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
Die Patienten fühlen sich durch die Erkrankung verletzlicher. Dadurch sind sie sich bewusster, was für Informationen sie im Netz hinterlassen. Ein Beispiel: Google weiss wahrscheinlich, dass jemand Lungenkrebs hat, bevor er es von mir hört. Warum? Ganz einfach: Der Erkrankte spürt Symptome auf seiner Brust, gibt diese bei Google ein, sucht einen Pneumologen auf, der ihm sagt, dass etwas in ihm wächst. Auch das googelt der besorgte Mensch, und schon weiss «Dr. Google», was noch kein Onkologe gesagt hat. – Um es klar zu sagen: Wir schützen die Daten deutlich besser als sie im Internet geschützt sind, wo sie jeder kaufen kann. Das verstehen die meisten Patienten gut.
Wie sichern Sie den Schutz der Patientendaten?
Wir nutzen dieselbe Codierung wie das nationale Krebsregister, in dem alle Krebserkrankungen der Schweiz einheitlich registriert werden.
Wie sieht die Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie aus?
Wir tauschen keine Daten aber Informationen.
Was heisst das konkret?
Wir werden keine Quelldaten übergeben. Was wir aber juristisch prüfen, ist die Weitergabe von aggregierten Daten. Im Gegenzug wollen wir ein Molekül beforschen, das unsere Patienten weiterbringen könnte, wenn wir bei einer Neuindikation positive Wirkungen ausweisen.
Krebs macht nicht vor einer Landesgrenze halt: Weshalb ziehen Sie ein schweizweites Register auf und nicht ein internationales mit sehr viel mehr Daten?
Ich glaube: Eine Initiative muss lokal, regional und national angeschoben werden aber so offen gehalten sein, dass sie den internationalen Austausch erlaubt. Unsere Datenbank RWD ist so gestaltet, dass die Integration anderer Daten kein Problem darstellt.
Die Halbwertszeit digitaler Entwicklungen ist kurz. Woher nehmen Sie die Zuversicht, dass der Onconavigator nicht schon in wenigen Jahren überholt sein wird?
Da unsere Daten in einem Warehouse abgelegt sind, macht sie das beliebig kombinierbar.
Welche Erkenntnisse beförderte die NSK-Kurztagung vom November zum Thema «klinische Register»?
Die Kurztagung führte zu interessanten Gesprächen. Mitunter wissen wir dank der Tagung mehr im Bereich der Qualitätssicherung. Dank der Tagung werden wir verschiedene Dinge diesbezüglich einer Überprüfung unterziehen und optimal weiterentwickeln können.
Was würde den Aufbau Ihres klinischen Registers massiv erleichtern?
Wenn jedes Spital ein digitales Warehouse hätte und niemand mehr die Daten analog erfassen müsste. Ich hoffe, dass wir in der Schweiz bis 2030 so weit sein werden. Leider dauert es so lange, weil jedes Spital autonom funktioniert. Ich bin alles andere als ein Zentralist, aber im Gesundheitswesen würden klare Richtlinien und Anforderungen an Klinikinformationssysteme und Datenformate helfen die Nachteile des Föderalismus in diesem Bereich zu beschränken.
Wann muss Onconavigator den Realismus-Check bestehen?
Nach 2000 Datensätzen werden wir überprüfen, ob der Algorithmus funktioniert. Danach gehen wir in eine randomisierte Studie, was nichts anderes heisst als: Best educated guess des Onkologen versus Vorschlag der Maschine. Mit der Hoffnung, dass das progressionsfreie Überleben um 25% verbessert werden kann.
Was macht Sie zuversichtlich, dass der Onconavigator funktioniert?
Ich vertraue auf die einzelnen Onkologen, die mit ihren Patienten an einem Tisch sitzen und sich zum Projekt bekennen. Und gleichzeitig bin ich positiv überrascht, wie viele Menschen bereit sind, bei diesem Projekt zusammenarbeiten, obschon sie Einzelinteressen verfolgen könnten.
Sehen Sie auch Möglichkeiten, dass das klinische Register und der Onconavigator in ein paar Jahren in einem internationalen Netzwerk aufgeht?
Ja.
Was haben Sie aufgrund Ihrer Arbeit für den Onconavigator über das Menschsein gelernt?
Die Motivation ist die Grundlage, um ein Ziel zu erreichen.
Zur Person
Prof. Dr. Roger von Moos, 54, ist Chefarzt in Onkologie/Hämatologie im Kantonsspital Graubünden. Bei der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Klinische Krebsforschung (SAKK) ist Roger von Moos Präsident. Er lebt verheiratet in Chur und ist Vater von zwei Kindern. In seiner Freizeit fährt er Velo und Ski und reist gerne, um neue Kulturen kennenzulernen.