Das Online-Programm «STREAM» senkt bei neudiagnostizierten Krebserkrankten den Stress und steigert ihre Lebensqualität. Doch die Implementierung von „STREAM“ bringt neue Herausforderungen mit sich. Warum das so ist, und was sie sich vom Selbstmanagement-Symposiums SELF des Bundes am 29. Oktober 2019 erhofft, sagt Viviane Hess, Leitende Ärztin in der Onkologie am Universitätsspital Basel.
Viviane Hess
Leitende Ärztin in der Onkologie am Universitätsspital Basel
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Interview: Peter Ackermann
Viviane Hess, Sie sind als Onkologin für die Behandlung der gastrointestinalen Tumoren am Universitätsspital Basel verantwortlich und leiten als Ärztin das klinische Forschungsteam der Onkologie. Zudem sind sie Professorin an der Universität Basel, verheiratet und Mutter von vier Kindern: Wo bereitet Ihnen Ihr Selbstmanagement im Alltag Schwierigkeiten?
Bei der Anzahl ganz unterschiedlicher Aufgaben, die sich über die Jahre hinweg angesammelt haben. Glücklicherweise kann ich mich dank der geographischen Nähe meines Arbeits- und Wohnorts gut organisieren und auch mal schnell heim oder an ein Elterngespräch – und umgekehrt ausserhalb der Arbeitszeit auch schnell mal ins Spital. Und wenn die Selbstorganisation trotzdem mal schwierig wird, hilft mir mein Hauptantrieb: Freude und Enthusiasmus.
Wie organisieren Sie Ihre Termine?
Im Spital und zu Hause mit je einem elektronischen Terminplaner. Meine 10- bis 16-jährigen Kinder schreiben ihre Verabredungen und Verpflichtungen ebenfalls ein. Zudem führe ich eine papierne Agenda.
Benützen Sie diese für besondere Anlässe?
Nein. Sie ist vielmehr der Ort, an dem meine Einträge aus den zwei elektronischen Agenden zusammengefasst werden. Da ich ein visueller Mensch bin, sehe ich mir gerne die jeweils nächsten Wochen im Überblick an.
Am Symposium „Digiself“ wurde vor einem Jahr ihr Selbstmanagement-Programm «STREAM» vorgestellt. Was hat das Selbstwirksamkeits-Symposium ihrem Programm gebracht?
Dr. Corinne Urech, Psychologin am Universitätsspital Basel und im Entwicklungsteam von «STREAM», nahm am Symposium teil. Sie erfuhr viel Wissenswertes über andere E-HealthProjekte und deren Herausforderungen. Zudem konnten wir unser Netzwerk weiter ausbauen. Wir sind in der Forschung sehr gut vernetzt. Was «STREAM» aber auch hilft, sind Kontakte mit Experten aus den Bereichen Technik und Wirtschaft.
Konnten Sie «STREAM» dank «Digiself» in einem konkreten Punkt weiterentwickeln?
Einen ganz konkreten, grösseren Entwicklungsschritt in der Umsetzung von «STREAM» kann ich nicht eins zu eins auf das Symposium zurückführen. Wir haben das auch nicht erwartet. Da es sich beim Programm «STREAM» um eine Intervention mit wöchentlichen online-Kontakten zu einer Psychologin handelt, ist «STREAM» auch eine Stufe komplizierter als viele reine Online-Anwendungen, die an der „Digiself 2018“ präsentiert wurden. Aber die neuen Kontakte, die wir knüpfen konnten, sind für uns wertvoll. Insbesondere in den Bereichen Software, Regulatorisches, Datenschutz, Businessmanagement, Anwendung und Bezahlung (Krankenkasse).
Worum geht es bei «STREAM»?
«STREAM» ist ein Akronym und steht für «Stress aktiv mindern». Das Online-Programm richtet sich an neudiagnostizierte Krebserkrankte. Anhand von acht Modulen mit Fragen, Informationen, Übungen und verhaltenstherapeutischen Anleitungen erhält der Krebsbetroffene eine Unterstützung bei der Bewältigung der Belastungen, welche die Krankheit auslöst. In den Übungen arbeitet sie oder er Themen durch wie: Was löst Stress aus, wer kann mich wie unterstützen, wie finde ich Ressourcen? Innerhalb des Programms steht der Krebspatient in einem regelmässigen schriftlichen Kontakt mit einem Psychoonkologen. Nach acht Wochen der gestützten Selbsthilfe kann der Betroffene mit seiner Krankheit besser umgehen.
Wie kam es zur Idee von „STREAM“?
Es gibt wissenschaftlich klare Hinweise, dass Stress die Wirkung von Therapien schmälern kann. Mein Ziel war es, mit nicht-medikamentösen Einflüssen eine medikamentöse Therapie positiv zu beeinflussen, so dass es dem Patienten besser geht. Dazu erhielt ich 2012 eine Förderprofessur des Nationalfonds, die ich unter anderem für «STREAM» einsetzte. Ebenso finanzielle Zuwendungen von Oncosuisse und der Universität Basel.
Weshalb setzten Sie auf ein digitales Selbstmanagementprogramm?
Der Vorschlag kam von Psychologenseite: PD Dr. Judith Alder, die damals im Universitätsspital Basel als Psychoonkologin arbeitete, machte mich darauf aufmerksam, wie wirksam OnlineInterventionen bei posttraumatischen Störungen und bei verhaltenstherapeutischen Ansätzen sind. Insbesondere, wenn innerhalb des digitalen Programms ein regelmässiger Kontakt mit Psychologen eingebaut ist und der Betroffene dadurch nicht nur auf sich gestellt ist. Zudem hat ein digitales Programm wie «STREAM» den Vorteil, dass man Betroffene in einem grossen geographischen Raum erreichen kann. Die Teilnehmer schätzen es auch, dass sie selbständig entscheiden, wann, wo und wie oft sie das Programm inklusive der Übungen zum Runterladen (von uns produzierte Videos und Audio-Files) benutzen.
Krebs tritt häufig im Alter auf. Erschwert ein rein digitales Programm den älteren Teilnehmern die Nutzung?
Wir haben in einer Machbarkeitsstudie den Unterschied zwischen jüngeren und älteren Nutzern geprüft: Es gab keinen.
Bei der schriftlichen Interaktion mit einer Psychologin fällt der wichtige Faktor der nonverbalen Kommunikation weg. Geht bei «STREAM» etwas Wichtiges verloren?
Die Befürchtung, dass der Bildschirm trennt, ist verständlich. Wir haben aber zwei andere, wichtige Dinge festgestellt, die für die gewählte digitale Interaktion sprechen: Erstens kann sich der Patient online oft besser auf sich fokussieren, weil er nicht abgelenkt wird. Er kann sich die Auseinandersetzung zeitlich einteilen und dazu einen bequemen Ort wählen. Zweitens: Trotz der Schriftlichkeit baut der Patient eine persönliche Beziehung zum Therapeuten auf. Sie ist gemäss psychologischen Studien ähnlich stark wie bei der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht. Diese Beziehung ist wichtig – reine Selbsthilfeprogramme sind weniger wirksam.
Ihre Folgerung?
Die Frage muss erlaubt sein, ob in gewissen Situationen die digitale Psychoonkologie vielleicht sogar besser geeignet ist als Sitzungen von Angesicht zu Angesicht. Sicher ergänzen sich die zwei Angebote. Über die ganze Zeit der Behandlung – in unserer Studie über elf Wochen – gesehen, ist «STREAM» wahrscheinlich zeiteffizienter: die schreibenden Psychoonkologinnen wendeten pro Woche im Durchschnitt nur 13 Minuten für einen Patienten auf. Persönliche Sitzungen dauern in der Regel schnell einmal eine Stunde lang.
Ist demnach die digitale Kommunikation der persönlichen überlegen?
Bei einigen verhaltenstherapeutischen Interventionen scheint sie gleich gut. Sie hat aber einen positiven, entlastenden Vorteil: Der Betroffene kann zu Hause durchschnaufen, muss nicht zu einer weiteren Konsultation.
Nach welchen stressmindernden Informationen suchten die Betroffenen im Programm von „STREAM“ besonders häufig?
80 Prozent haben sechs der acht Module bearbeitet. Viel genutzt wurde das Genussmodul, in dem sich die Krebsbetroffenen stark auf die eigenen Ressourcen konzentrierten. Oben auf schwangen aber auch die Module zu sozialen Netzwerken. Krebs verändert Beziehungen. Nicht immer sind die Menschen, die vor der Diagnose die engsten waren, für einen Krebsbetroffenen nach der Diagnose gleich nah. Dafür sind Personen, die vorher vielleicht eher im Hintergrund waren, plötzlich eine grosse Stütze im Alltag. Der erkrankte Mensch muss dieses Beziehungsnetzwerk neu erfahren und lernen auch bei gut gemeinten Angeboten mal jemandem «Nein» sagen zu können. Oder sich getrauen, Unterstützung von aussen anzunehmen.
Sie haben in einer Studie die Wirksamkeit von «STREAM» geprüft. Wie fällt diese aus?
Erfreulicherweise konnten wir klar zeigen, dass «STREAM» bei den Nutzern zu einer signifikanten Verbesserung der Lebensqualität führte, verglichen mit einer Kontrollgruppe, die im gleichen Zeitraum das Programm nicht benutzte. In der Kontrollgruppe, die das Programm dann später angewandt hat, war nach «STREAM» ebenfalls eine verbesserte Lebensqualität messbar.
Gibt es Bereiche, in denen sich die gesteigerte Lebensqualität deutlicher verbesserte?
Allerdings. Erstaunlicherweise aber nicht so sehr im emotionalen Bereich. Sondern vielmehr im körperlichen und sozialen. Und bei der Fatigue sind ebenfalls grosse Verbesserungen sichtbar.
Cancer Survivors werden oft von Fatigue geplagt. Könnte „STREAM“ auch bei ihnen zur Anwendung kommen?
Möglicherweise. Aber ich sehe die Weiterentwicklung von „STREAM“ analog zu der eines Arzneimittels: Nur weil ein Medikament in einem Bereich nützt, heisst das nicht automatisch, dass es auch in anderen Indikationen wirksam ist. Man müsste das untersuchen.
Wo stehen Sie in der Regelimplementierung?
Wir sind in einer Zwischenphase. Bei der Entwicklung eines Medikaments würde man von einem «extended access program» sprechen, das heisst unsere Psychoonkologin bietet das Programm interessierten Krebsbetroffenen an.
Konkret?
Die Anwendung steht. Auf der Forschungsseite sind die nächsten Schritte definiert: Die erste Studienphase, in der vornehmlich Frauen mit Brustkrebs teilgenommen haben, ist mit sehr guten Ergebnissen abgeschlossen. Nun kommt die Studie für Männer mit Krebs, überwiegend mit Prostatakarzinom. Die grösste Schwierigkeit bei der Regelimplementierung ist die Finanzierung des Programms ausserhalb des Forschungsbereichs. Eine professionelle Software, die immer auf dem neuesten Stand ist, ist teuer. Umso mehr als viele Punkte zum Datenschutz, zum Standort des Servers, und so weiter berücksichtigt werden müssen.
Was würden Sie benötigen, um «STREAM» zur Marktreife zu bringen?
Die Finanzen sind immer die Grundlage für alles. Bislang war «STREAM» ein Forschungsprojekt mit Geldern des Nationalfonds, von der Oncosuisse und der Universität Basel. Mit den Forschungsgeldern konnten die Mitarbeitenden und die Entwicklung der Software bezahlt werden. Wie wir aus dem Forschungsprogramm ein Markt-Produkt – selbst im Non-Profit Bereich – machen, ist für uns neu, und eine komplexe Angelegenheit. Die Software muss vielen Ansprüchen und gesetzlichen Richtlinien entsprechen, die je nach Land anders sein können. In der EU werden viele Gesetze in diesem Bereich gerade neu implementiert. Ausserdem muss eine Website oder App auf verschiedenen Devices laufen und à jour gehalten werden.
Was brächte «STREAM» weiter?
Rund eine halbe Million Franken. Wir könnten damit die oben erwähnten Software-Lösungen mit der nötigen (Wo)Manpower angehen.
Was ist das Ziel?
Wir möchten «STREAM» im gesamten deutschsprachigen Raum anbieten. Als Website und als App. Dadurch, dass wir einen klaren Nutzen bei den Betroffenen zeigen konnten, sind wir der Meinung, dass das Programm irgendwann über die Krankenkasse abgerechnet werden soll. Um sicher zu gehen, dass es umgesetzt wird, muss der Vertrieb etwa über Lizenzen immer mit Schulungen von Psychologen verbunden sein, die ja innerhalb des Programms regelmässig mit den Patienten kommunizieren.
Gibt es Interessenten?
Das Interesse an «STREAM» ist riesig. Spitäler interessieren sich dafür und Praxen, Krankenkassen, Pharmafirmen und Patienten. Aber kaum jemand hat das Know-How oder das Geld, um das Programm in den Behandlungsalltag einzuführen.
Eine Krankenkasse zeigt Interesse an einem Kauf von «STREAM». Steht ein Verkauf bevor?
Nein. Wir bevorzugen klar eine Lösung mit mehreren Stakeholdern. Oder eine Anbindung an eine öffentliche bzw. Non-Profit Organisation wie der Universität Basel oder der Krebsliga Schweiz.
Bis wann müssten die Finanzierung, die Eigentümerschaft, die juristische Form geklärt sein?
Am liebsten gestern – realistischerweise innerhalb der nächsten ein bis zwei Jahre.
Am 29. Oktober 2019 findet in Bern das Selbstmanagement-Symposiums SELF des Bundes statt. Was erhoffen Sie sich von der Fortsetzung des Digiself?
Diesmal wird «STREAM» in Bern von der Psychoonkologin Astrid Grossert vom Universitätsspital Basel vertreten, die «STREAM» von der ersten Stunde an mitentwickelt hat. Wir wollen erfahren, wie andere ihre Programme in einer ähnlichen Situation weiterentwickelt haben, wo es Synergien gibt. Vielleicht hören auch die Personen zu, die in «STREAM» finanziell und oder mit Know-how investieren möchten. Und dann hoffen wir auf das überraschende Moment: Oft entsteht eine wegweisende Idee bei einem Networking-Event in einer guten Runde am Abend bei einem Bier.
Wagen Sie eine Prognose: Wo steht «STREAM» in fünf Jahren?
Im deutschsprachigen Raum können wir «STREAM» anbieten. Und vielleicht ist es in Französisch und Englisch übersetzt. Möglicherweise auch in eine nordische Sprache. Denn in Skandinavien ist der Gebrauch von Online-Programmen ausserhalb von Krebserkrankungen bereits etabliert.
Was haben Sie aufgrund Ihrer Arbeit an «STREAM» über das Menschsein gelernt?
Ob mit oder ohne geführte psychologische Unterstützung: Schliesslich und endlich kann jeder Mensch die Hilfe eigentlich nur aus sich selbst herausfinden – eine gute Intervention hilft auf dem Weg dazu.
Zur Person
Vivane Hess wurde 1971 in Zürich geboren. Sie studierte Medizin an den Universitäten Lausanne und Zürich und habilitierte 2008 an der Universität Basel. Heute arbeitet sie als leitende Ärztin Onkologie am Universitätsspital Basel und führt das dortige Forschungsteam. Viviane Hess ist verheiratet, Mutter von vier Kindern und lebt in der Basler Altstadt.
Links
- Kurzfilm zu «STREAM»
- Weiterführende Informationen zu «STREAM»
- Patienten mit einem neudiagnostizierten Prostatakrebs, die «STREAM» kostenlos anwenden wollen, bekunden ihr Interesse über: stream@usb.ch