«Care ist ebenso wichtig wie Cure»

15. Oktober 2019

Um Krebspatienten das Selbstmanagement von Symptomen zugänglich zu machen, wurde in den vergangenen sieben Jahren das Symptom-Navi-Programm entwickelt. Mit dabei ist Manuela Eicher, Pflegefachperson und Professorin für Pflegewissenschaft an der Fakultät für Biologie und Medizin an der Universität Lausanne und am CHUV in Lausanne. Ihr Ziel: Das Programm von der heutigen Papierfassung in die digitale Welt übertragen. Das Selbstmanagement-Symposiums SELF des Bundes vom 29. Oktober 2019 könnte dazu ein weiterer Meilenstein bilden.

Manuela Eicher

Pflegefachperson und Professorin für Pflegewissenschaft an der Fakultät für Biologie und Medizin an der Universität Lausanne und am CHUV in Lausanne

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Interview: Peter Ackermann

Manuela Eicher, was bereitet Ihnen im Alltag bei Ihrem Selbstmanagement Schwierigkeiten? Manuela Eicher:
Die Organisation meines Lebens. Was ich lernen muss, vielleicht weil ich Pflegefachperson bin: dass ich mich nicht nur um andere, sondern auch um mich selber kümmern muss. Ich bin eine Kümmerin für alle und jeden, aber mir selber schaue ich zu wenig.
Was tut Ihnen gut?
Yoga. Neuerdings auch in einer Gruppe – damit ich tatsächlich hingehe. Und dann die Momente mit meinem Mann und unseren zwei Kindern.
Sie haben im vergangenen Jahr beim internationalen Symposium «Selbstwirksamkeit digital fördern/digiself 2018» ein Selbstmanagement-Programm vorgestellt: Das Symptom-Navi- Programm, kurz Symptom Navi. Hat Ihre Teilnahme dem Programm konkret etwas gebracht?
Für das Symptom-Navi-Programm selbst hat «digiself» vor allem aufgezeigt, welche weiteren elektronischen Entwicklungen möglich wären. Sehr spannend und inspirierend war für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Austausch mit anderen Leuten, die ebenfalls digitale Selbstmanagement-Programme entwickeln.
Welche Idee verfolgen Sie mit dem Symptom-Navi-Programm?
Krebsbetroffene leiden aufgrund ihrer Erkrankung oder der Therapie an verschiedenen Symptomen. Etwa an Haarverlust, Übelkeit oder Angst. Diese Symptome können sich negativ auf den Alltag der Betroffenen und deren Angehörige sowie negativ auf die Therapie auswirken. Diese Symptome gehen wir in der Onkologie mittels supportiven Therapien an. Mitunter mit Medikamenten. Mit dem Symptom Navi jedoch stellen wir einem krebserkrankten Menschen ein Programm zur Verfügung, mit dem sie oder er ihre oder seine Symptome auch im Selbstmanagement angehen kann. Wir wissen, dass Menschen, die den Umgang mit den Auswirkungen ihrer Erkrankung auf ihren Alltag lernen, gesünder weiterleben, weniger Probleme haben und besser im Alltag zurechtkommen.
Wie funktioniert das Programm konkret?
Das Symptom Navi fördert das Selbstmanagement von Nebenwirkungen bei Krebstherapien. Es besteht aus 16 Informationsblättern mit schriftlichen Kurzinformationen zu häufigen Symptomen, einem Schulungskonzept für Pflegefachpersonen zur Patientenedukation bei der Abgabe der Flyer. Jeder dieser 16 Flyer ist einem Symptom gewidmet. Etwa Angst, Haarverlust, Übelkeit oder Veränderungen in der Sexualität. Wenn sich eine Patientin oder ein Patient beispielsweise ängstigt, kann sie oder er sich fragen, ob seine Angst noch normal sei, und was man dagegen machen kann. Wir haben die Symptome und Vorschläge für das Selbstmanagement so ausgearbeitet, dass jedes der Symptome auf einem einzigen Blatt Papier Platz findet. So, dass die Patientin nicht Informationen über ihren Haarverlust erhält, wenn sie gar kein Risiko hat, diesen zu entwickeln. Ziel der verschiedenen Produktangebote ist, Betroffenen dabei zu helfen, auftretende Symptome mit einem Ampelsystem «Grün, Gelb, Rot» in ihrer Intensität richtig einzuschätzen und wirksame Massnahmen zu treffen. Das Symptom Navi ersetzt keineswegs die Betreuung und das Gespräch mit einer Fachperson. Es soll vielmehr die Information und Beratung durch Fachpersonen unterstützen.
Wer hat das Programm initiiert?
Susanne Kropf-Staub. Sie ist Pflegeexpertin Onkologie in der Lindenhofgruppe. Vor zirka acht Jahren machte sie eine Weiterbildung im Bereich Patientenedukation. Dabei kam sie auf die Idee der Symptomflyer und rief dazu eine Expertengruppe ins Leben, die in den letzten Jahren das Symptom Navi entwickelt hat. Mittlerweile hat sich eine Steuergruppe mit Vertretern der Lindenhofgruppe, der Krebsliga, der Hochschule für Gesundheit Freiburg, der Solothurner Spitäler, des IUFRS und Fachvereine entwickelt, die die verschiedenen Weiterentwicklungen, wie die elektronische Version des Symptom Navi, die Erforschung der Wirksamkeit des Programms und die Entwicklung neuer Flyer leitet. Ich bringe hier meine Expertise im Zusammenhang mit Selbstmanagement von Symptomen ein. Und zu meinen Aufgaben gehört auch, die Flyer möglichst evidenzbasiert weiterzuentwickeln.
Wie reagieren die Nutzerinnen und Nutzer auf das Programm?
Die Rückmeldungen aus der Praxis sind sehr gut. Um wissenschaftlich zu erfahren, ob das Programm die Situation der Krebsbetroffenen verbessert, führten wir in den letzten drei Jahren eine Pilotstudie durch. Die Auswertungen werden in den nächsten Monaten vorliegen.
Bei der Entwicklung des Symptom Navis haben Sie die Patientinnen und Patienten wiederholt mit eingebunden. Welche Erfahrungen haben Sie mit diesem Vorgehen gemacht?
Sehr gute. Der Wunsch, das Symptom Navi auch in digitaler Form anzubieten, stammt übrigens von den Patientinnen und Patienten. Sie wollten die Informationen immer bei sich haben. Ein Patient argumentierte: «Ich kann doch nicht einen Migros-Sack voller Flyer mitnehmen, wenn ich am Wochenende zu meiner Tochter fahre und dann wird mir schlecht. Dann möchte ich die Infos zu Übelkeit auf dem Smartphone greifbar haben.»
Führte der Wechsel des Mediums vom Papier zur digitalen Version zu neuen Inhalten?
Er führte zu Erweiterungen: Die elektronische Version hat den Vorteil, dass sich Videos und Audio-Files leicht einbinden lassen. Auf dem Flyer müssen wir mit langen Links auf Filme oder weiterführende Angebote hinweisen. In der elektronischen Version drückt der Nutzer auf einen Link, der ihn direkt zum Video und weiteren Informationen und Vernetzungen führt. Und in der digitalen Version findet der Patient die Koordinaten möglicher Ansprechpartnerinnen und – partner in seiner Gegend. Etwa die Telefonnummer der wichtigsten Personen seines Behandlungsteams. Aus der Patientenperspektive sind das klare Verbesserungen.
Welchen Nutzen bringt eine digitale Version für Sie als Wissenschaftlerin?
Mich interessieren zum Beispiel die Klicks, die wir anonymisiert tracken können. Wir werden in Zukunft sehen, welche Symptome häufig oder und zusammen mit anderen Symptomen auftreten. Aufgrund dieser Korrelationen erhoffen wir uns wertvolle Hinweise, wie wir Krebspatientinnen und Krebspatienten zukünftig noch besser betreuen können.
Wie weit ist die digitale Version vorangeschritten?
Wir verfügen über eine Beta-Version. Im Moment warten wir aber noch auf die Ergebnisse der Pilotstudie. Denn erst wenn die papierne Version steht, wollen wir mit einer digitalen Version an die Patientinnen und Patienten gelangen
Die Flyer und die Schulungsunterlagen sind umfangreich. Verfügen die Pflegenden über genügend Zeit, um Patientinnen und Patienten das Symptom Navi richtig zu vermitteln?
Alles, was in den Flyern steht, müssten die Pflegenden theoretisch kennen, um ihre Patientinnen und Patienten gut zu informieren und im Selbstmanagement zu unterstützen. Wir haben aber festgestellt, dass Pflegende manchmal fast zu gut sind im Weitergeben von Informationen. Das heisst: Sie geben mehr Flyer ab, als die Patientin oder der Patient gerade benötigt. Aber eine Anleitung zum Selbstmanagement ist mehr als das.
Was benötigt es denn für ein gutes Selbstmanagement?
Selbstmanagement geht oftmals einher mit einer Verhaltensänderung: Wie geht man als Patientin oder Patient um mit schwierigen Emotionen? Wie findet man sich zurecht in seiner neuen Rolle? Ein erfolgreicher Geschäftsmann mit Prostatakarzinom stellt aufgrund seiner Erkrankung vielleicht die Frage, wie er zukünftig leben möchte. Vielleicht fragt er sich, ob er wie bisher der erfolgreiche Geschäftsmann sein will oder kann? Ist seine bisherige Rolle noch abbildbar? Kann er noch wie gewohnt der liebevolle Familienvater sein, oder muss er sich jetzt zuallererst sich selbst schauen?
Lässt sich Selbstmanagement überhaupt vermitteln?
Ja, aber nicht so einfach. Pflegende können eine Hilfe bieten, um mit all den neuen Anforderungen, die mit einer Krebserkrankung entstehen, zurecht zu kommen. Wir schulen sie im Rahmen des Symptom Navi darin. Was sehr wichtig ist. Denn wir in der Pflege sind super darin, einem Patienten Handlungsanweisungen zu vermitteln: «Sie müssen das Medikament jeden Tag nehmen. Legen sie es neben die Zahnbürste, dann vergessen sie es nicht.» Wir sind aber häufig schlecht darin, den Patienten zu fragen: «Können Sie sich vorstellen, das überhaupt so zu machen?»
Was tun Sie in der Schulung der Pflegenden, um dieses Manko zu beheben?
Um das Selbstmanagement zu fördern, lernen die Pflegenden, eine Patientin oder einen Patienten mit offenen Fragen zu unterstützen: Hat sie oder er die Informationen verstanden? Kann sie oder er die Informationen oder Handlungsweisungen erläutern? Kann sie oder er ihre Ziele formulieren? Und die damit verbundenen Herausforderungen? Wie meistert sie oder er diese? – Diese Fragen sind ausserordentlich wichtig. Denn wenn jemand ein Ziel vor Andern formuliert, ist sie oder er näher dran an der Umsetzung.
Benötigt es weitere Dinge, um die Selbstwirksamkeit in der Praxis zu vermitteln?
Sie lässt sich wie gesagt durch gezielte Interventionen fördern, indem die zu erreichenden Ziele formuliert werden. Eine andere Vorgehensweise besteht darin, dass die Patienten sich Peer-to- Peer vergleichen und voneinander lernen.
Haben die Pflegenden überhaupt Zeit dazu?
Pflegende haben immer Zeit, um alle Therapien zu verabreichen. Keine Pflegende geht heim, bevor sie alle verordneten Therapien verabreicht hat. Wenn wir aber wissen, wie wichtig das Selbstmanagement für die Lebensqualität ist und für die Morbidität und vielleicht auch für die Mortalität, dann frage ich Sie: Warum geht eine Pflegende dann heim, ohne die Selbstmanagement-Kompetenzen einer Patientin oder eines Patienten gefördert zu haben?
Sagen Sie es mir
Wir haben in der Onkologie bislang den Fokus oft auf Treatments gerichtet, vielleicht auch auf «Cure», aber zu wenig auf «Care». Das ist meine grosse Vision für die Pflege in der Onkologie: Die Förderung des Selbstmanagements sollte meiner Ansicht nach gleich stark gewichtet werden wie die medikamentöse Therapie. Denn die Betroffenen müssen lernen, mit ihrer Krebserkrankung zu leben, auch dann, wenn die Therapien längst abgeschlossen sind. Das ist eine grosse Aufgabe.
Gemäss einer norwegischen Studie hat das Lesen auf dem Bildschirm eines Smartphones, Tablets oder Computers gewichtige Nachteile gegenüber der Informationsaufnahme auf dem Papier: Das Bildschirmlesen schwächt die Aufnahme, weniger Gelesenes bleibt haften. Ist ein digitales Symptom Navi tatsächlich geeignet für die Vermittlung komplexer Inhalte?
Für unsere Generation mag das stimmen. Aber wenn ich meine Kinder beobachte, weiss ich nicht, ob sie aus einem geschriebenen Text noch so viel herausholen wie aus den elektronischen Medien.
Wir wissen es nicht.
Als Wissenschaftlerin kann ich das ja testen: Nur benötigen wir dazu das Symptom Navi in digitaler Form. Doch zunächst müssen wir die Ergebnisse der Pilotstudie abwarten. Was, wenn das Symptom Navi gar nicht die erwünschte Verbesserung bei den Patientinnen und Patienten erzielt?
Sind Sie ernsthaft besorgt oder stellen Sie die Frage nur rhetorisch?
Ich nehme unsere Intervention ernst. Wenn man sieht, wie lange es braucht, um zum Beispiel ein Medikament zu entwickeln, dann benötigen wir vielleicht 20 Jahre und ein grosses Team an Wissenschaftlern, bis wir ein effektives Symptom Navi haben, das das bringt, was wir uns tatsächlich erhoffen. Was wir wissen, ist die klare Rückmeldung aus offenen Interviews: Die Patientinnen und Patienten finden das Programm sehr hilfreich.
Wo bestehen Schwierigkeiten bei der Implementierung des digitalen Programms?
Wie gesagt: Die Beta-Version ist bereit und die Vorbereitungen für eine kleinere Pilotstudie sind getroffen. Unsere Idee besteht darin, in den geschulten Zentren die Papierflyer anzubieten, und später auch die elektronische Version. Doch die digitale Integration spielt im Moment eine untergeordnete Rolle. Wir müssen zuerst schauen, dass die Version auf Papier gut ist.
Warum setzen Sie zuerst auf das Papier?
Weil wir trotz allen Vorteilen des Digitalen glauben, dass die papierne Version einfacher zu kontrollieren ist.
Was für Vorkehrungen bedingt die Datensicherheit?
Die Datensicherheit benötigt ein vorsichtiges Vorgehen. Eine App auf dem Smartphone kann beispielsweise in einem öffentlichen Netz von anderen gesehen werden. Und schon weiss jeder, dass jemand Krebs hat. Wir prüfen deshalb eine internetbasierte Lösung, bei der man keine App herunterladen muss. Doch die Weiterentwicklung der Beta-Version kostet viel Geld.
Was sind die nächsten Schritte, um das Symptom Navi weiterzubringen?
Die Lindenhof Stiftung hat uns gerade wieder eine Unterstützung zugesichert und wir konnten eine Partnerschaft mit der Krebsliga Schweiz eingehen. Dennoch müssen wir eine nachhaltige Finanzierung sicherstellen – haben dazu aber bisher kaum Zeit. Geld aufzutreiben ist enorm zeitaufwendig. Und nicht die Kernkompetenz der meisten Personen, die bisher in die Entwicklung des Programms involviert waren. Susanne Kropf ist eine Pflegeexpertin, die in der direkten Pflege von Krebserkrankten engagiert ist und keine Fundraiserin. Ich bin Wissenschaftlerin und kann Gelder für Forschung beantragen, kaum aber für eine nachhaltige Implementierung. Und wir alle in unserer Expertengruppe des Symptom Navi nehmen uns dem Programm häufig am Abend und Wochenenden an. Mit ganz viel Engagement. Aber das Programm beginnt, die Möglichkeiten einer kleinen Gruppe zu überspannen, daher freuen wir uns, nun mit der Krebsliga Schweiz zusammenarbeiten zu können. Wir haben die Infrastruktur nicht. Was wir aber faktisch so im Nebenamt betreiben, ist Implementierungsforschung – da ist in der Schweiz noch wenig vorhanden.
Wenn das Programm aber steht, wäre es möglich, dass man es auch auf andere Bereiche der Primärversorgung überträgt?
Bestimmt: Die Spitex-Bern beispielsweise hat Interesse signalisiert. Aber auch Hausärzte und andere Ärzte in der Primärversorgung. Da sehe ich Chancen für eine Erweiterung. Und auch im Bereich Palliative Care könnte das System hinter Symptom Navi interessant sein.
Am 29. Oktober 2019 findet in Bern das Selbstmanagement-Symposiums SELF des Bundes statt. Mit Karin Ribi nimmt die wissenschaftliche Mitarbeiterin aus Ihrer Expertengruppe daran teil. Was erhoffen Sie sich von der Fortsetzung des Digiself?
Vernetzung, Vernetzung, Vernetzung. Und dann ein paar Einsichten darüber, über was für Fördermöglichkeiten wir verfügen.
Was haben Sie aufgrund Ihrer Arbeit am Symptom Navi Programm über das Menschsein gelernt?
Wie sehr sich eine Gruppe aus ganz unterschiedlichen Menschen für die Bedürfnisse von anderen einsetzen kann, wenn sie dazu Engagement aufwendet und es nicht in erster Linie um das Ego geht.
Zur Person
Manuela Eicher wurde 1971 in Tübingen geboren. Sie arbeitet als Pflegewissenschaftlerin, ist Professorin für Pflegewissenschaft an der Fakultät für Biologie und Medizin an der Universität Lausanne und im CHUV und Infirmière consultante en recherche im Departement für Onkologie des CHUV, Lausanne. Sie ist verheiratet, Mutter von zwei Kindern und lebt in Freiburg.